Zarische Truppen, Krasnaja Poljana, 21.5.1864

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Mittwoch, 18. September 2013

Offener Brief an die "Junge Welt"

Peter Steiniger, Online-Redakteur der linksgerichteten alternativen Tageszeitung "Junge Welt", hat von mir heute folgenden offenen Brief erhalten:


"Sehr geehrter Herr Steiniger,

Ich arbeite seit Jahren als unabhängige Historikerin und Ethnologin zur Kolonialgeschichte desWestkaukasus und bemühe mich hierbei um eine historische Aufarbeitung der genozidalen Gewalt, der während der russischen Eroberung der Region Mitte des 19. Jahrhunderts die lokale tscherkessische Bevölkerung ausgesetzt war. Anläßlich des am 13.9.2013 in Ihrer Zeitung erschienenen Artikels „Zeichen gegen Homophobie gefordert“ von Ben Mendelson hatte ich am gleichen Tag folgenden Leserbrief geschrieben:

Ich möchte meine Mit-Leser freundlich darum bitten, sich auch mit der Geschichte der Tscherkessen auseinanderzusetzen, die die Einwohner der Region um Sotschi waren, bis sie im Zuge der russischen Kolonialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts mit Gewalt und Terror zur Unterwerfung und dann ins osmanische Exil gezwungen wurden. Aus heutiger Sicht sind hier deutliche historische Parallelen zu beispielsweise dem Völkermord an den Armeniern oder dem an den Herero und Nama vorhanden. Für die mittlerweile über die ganze Welt verstreut lebende tscherkessische Diaspora sind die Spiele ein Schlag ins Gesicht, ihre Nichterwähnung und die Nichtmiteinbeziehung der tscherkessischen Geschichte und Kultur eine Fortsetzung der Kolonialverbrechen und dem Verschweigen derselben. Leider wird hierüber in deutschen Medien kaum berichtet. Ich habe darum eine Aktion gestartet, in der ich Bundestagskandidaten um Stellungnahmen gebeten habe. Eine Ausweitung der Aktion samt Gastbeiträgen, Literaturauszügen und tscherkessischen Stimmen zu Sotschi 2014 ist geplant. Ich würde mir wünschen, daß künftig die verschiedenartigen problematischen Aspekte von Sotschi 2014 (Umweltschutz, Homophobie, tscherkessische Rechte, Sozialkahlschlag vor Ort etc.) gemeinsam thematisiert werden anstatt der sonst üblichen Themenrivalität. Mein Ziel ist es, auf zvilgesellschaftlicher Ebene anzusetzen und damit eine Alternative zu amerikanischen Aktivitäten in der Region zu schaffen, die unter dem Deckmantel der Unterstützung des "Freiheitskampfes" der Nordkaukasier die eigenen geostrategischen Interessen (d.h. vor allem Ölzugang und "Sicherung" der Transitregionen) vorantreiben. Russophobie ist damit nicht das Ziel. Es geht auch nicht darum, die Spiele zu verhindern, sondern Aufmerksamkeit zu schaffen, damit ein weiteres Verschweigen der Geschichte der Region zu verhindern und eine längst überfällige Vergangenheitsaufarbeitung mitanzustoßen. Zu meinem blog geht es unter http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/“.

Ich sehe heute, daß sich mein Leserbrief nicht unter den neu veröffentlichten Zuschriften befindet. Ich habe Ihren Hinweis auf Ihrer Webseite, daß kein Anspruch auf Veröffentlichung von Leserbriefen besteht, zur Kenntnis genommen. In diesem Falle kann ich Ihre Entscheidung allerdings weder nachvollziehen noch politisch gutheißen und hätte gerne die konkreten Beweggründe benannt. Auch im redaktionellen Teil der Jungen Welt ist bisher kein einziger Artikel zu finden, der im Zusammenhang mit den Olympischen Winterspielen 2014 die hiervon in besonderem Maße betroffenen Tscherkessen auch nur erwähnen würde. Dies mißt dem Nichterscheinen eines Leserbriefes, der entsprechende Informationen nachliefern und zu einer längst überfälligen Diskussion anstoßen könnte, eine andere Bedeutung bei, als dies beim Wegfall einer bloßen Meinungsäußerung eines Lesers zu bereits hinlänglich bekannten Themen und Probemlagen der Fall wäre. Die Nichtveröffentlichung meiner Zuschrift an Sie deckt sich zudem mit einem zensurverdächtigen Vorgang beim Spiegel, den ich bereits auf meinem blog in Form eines offenen Briefs wie auch bei indymedia unter dem Titel Debattenangst beim Spiegel thematisiert hatte.

Für mich ergibt sich bei Betrachten der Berichterstattung deutscher Medien zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 der Eindruck, daß sie als Schaltstellen der öffentlichen Diskussion Informationen zu den tscherkessischen Aspekten der Olympischen Spiele in Sotschi systematisch unberücksichtigt lassen bzw. ausfiltern. Dies widerspricht meines Erachtens der Informationsaufgabe von Medien in einer demokratischen Gesellschaft; es dürfte mit dieser Informationspolitik auch einer überdurchschnittlich interessierten Öffentlichkeit stark erschwert sein, sich ein umfassendes und ausgewogenes Bild zu dieser aktuellen Thematik zu machen.

Gerade bei Ihrer Zeitung, die sich als alternatives Medium jenseits des Mainstreams definiert und es sich nach eigener Aussage zur Aufgabe gemacht hat, den „Einsatz von Zwang, Gewalt und Krieg unter Bruch des Völkerrechts auf internationaler Ebene“ zu thematisieren und dabei „alle politischen Formen von Protest und Widerstand gegen diese Tendenzen“ zu fördern, vermisse ich eine entsprechende deutliche Positionierung samt einer Berücksichtigung tscherkessischer Perspektiven auf Sotschi 2014. Meines Erachtens haben tscherkessische Individuen und Verbände ein Recht, in die öffentliche Diskussion zu den Olympischen Spielen miteinbezogen zu werden, wie auch die deutsche Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, neben Umweltproblematik und einer problematischen Homosexuellengesetzgebung auch über eine verfehlte russische Vergangenheitspolitik und die fortgesetzte Mißachtung der Rechte von Nordkaukasiern in der Russischen Föderation unterrichtet zu werden. Alles andere wäre aus meiner Sicht eine Fortschreibung russischer Geschichtsklitterung und Vergangenheitsverleugnung.

Ich möchte Sie deswegen darum bitten, sowohl zu der Nichtveröffentlichung meines Leserbriefs wie auch zu der bisher fehlenden Berichterstattung zu der mit den Olympischen Winterspielen 2014 verbundenen tscherkessischen Problematik Stellung zu nehmen. Sollten Ihnen die tscherkessischen Aspekte der russischen Ausrichtung der Winterspiele in Sotschi bisher unbekannt gewesen sein, kann ich Ihnen, sofern von Ihrer Seite entsprechendes Interesse besteht, bei der Herstellung von Kontakten zu möglichen tscherkessischen Gesprächspartnern – gerne auch zu linksgerichteten tscherkessischen Assoziationen und Individuen – behilflich sein.

Ihre Antwort werde ich zusammen mit dem vorliegenden offenen Brief auf meinem blog unter http://sochi2014-nachgefragt.blogspot.com/ veröffentlichen. Ich danke Ihnen im Voraus für Ihre Zeit und Ihr Interesse bei der Beantwortung meines Schreibens.
Mit freundlichen Grüßen,
                                                                                                   Irma Kreiten"